«Positive Leadership» an der italienischen Tankstelle

Diesen Sommer verbrachte ich meine Ferien in Süditalien. Um trotz der Anreise mit dem Zug mobil zu sein, mieteten wir vor Ort bei einem kleinen, lokalen Anbieter ein Auto. Nach einer unbürokratischen Übergabe und der Vereinbarung, beim kleinsten Problem die Autovermieterin Marilena anzurufen, brausten wir davon. Einige Tage später steuerten wir eine Tankstelle an. Zu unserer Erleichterung arbeiten an vielen Tankstellen in Süditalien noch Menschen, welche den Ölstand prüfen, die verstaubten Scheiben waschen und natürlich das Auto volltanken. Wir waren um diese Unterstützung insofern froh, als dass wir bei unserem Mietauto den Tankdeckel nicht öffnen konnten. Die zwei Mitarbeiter der Tankstelle untersuchten jeden möglichen Knopf und prüften sämtliche Mechanismen. Da aber auch ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, riefen wir Marilena an, mit einem leichten Unbehagen, sie mit einem Problem dieser Art konfrontieren zu müssen und uns damit als blöde Touristen zu positionieren, die nicht mal tanken können. Marilena liess sich mit keiner Nuance ihrer Stimme anmerken, dass sie sich über Probleme dieser Art wunderte und war zehn Minuten später in Begleitung ihres Mannes vor Ort. Dieser war mit seinem Frühstücksmesser ausgerüstet und öffnete den Tankdeckel innert Sekunden mechanisch. Er erklärte uns, dass es gelegentlich vorkomme, dass der elektronische Mechanismus blockiere, und dann nur noch eine mechanische Öffnung durch das Messer möglich sei. Damit wir zukünftig ungehindert tanken konnten, entfernte er den äusseren Deckel des Schraubverschlusses kurzerhand.

Was nehme ich aus der Begebenheit an der süditalienischen Tankstelle mit ins schweizerische Berufsleben?

Am besten lässt sich dies mit dem Ansatz «Positive Leadership», welche Ruth Seliger in ihrem Buch anschaulich darstellt, umschreiben. Sie betrachtet Führung als gesellschaftliches Paradigma, eingebettet in die Denkmuster der aktuellen Zeit. Dabei nimmt sie ein positives Menschenbild als Grundlage und zeigt Möglichkeiten auf, wie vermehrt auf die Stärken und Ressourcen der Mitarbeitenden fokussiert werden kann. Wie in der geschilderten Situation bei der Autovermietung ist dieses Menschenbild von Wohlwollen und Vertrauen geprägt. Anders als bei den üblichen Anbietern von Autovermietungen, bei der jegliche Kratzer im Blech im Vorfeld penibel genau erfasst, und jeder fehlende Liter Benzin bei der Rückgabe teuer in Rechnung gestellt werden, hat uns Marilena im Vorfeld die besten Absichten unterstellt und uns ihr Vertrauen geschenkt. Positive Leadership ist dabei nicht als esoterische Wohlfühl-Haltung zu verstehen, welche sämtlichen negativen oder kritischen Herausforderungen negiert, sondern als Position, welche sich vielmehr auf die Stärken und Potenziale von Menschen ausrichtet und dort ihren Schwerpunkt hat. Positive Emotionen erhöhen die Produktivität der Arbeit und stellen somit auch einen wirtschaftlich guten Grund dar, sich damit im Führungsalltag zu beschäftigen. Arbeit definiert Ruth Seliger in ihrem Buch als Aktivität, welche Energie benötigt. Diese organisationale Energie kann als die Kraft umschrieben werden, mit der ein Unternehmen zielgerichtet Dinge bewegt und stellt ein wesentlicher Einflussfaktor einer Organisation dar. Im Tankstellen Beispiel ist das Benzin, der fehlende Zugang zum Tankdeckel und die vielfältigen Bemühungen, diesen zu öffnen, eine schöne Analogie zur Energie, die benötigt wird, um den Motor zum Laufen zu bringen und sich zielgerichtet fortbewegen zu können. Führung wird als Energiearbeit verstanden, welche sich dafür verantwortlich zeichnet, dass die Arbeit der Organisation gut gemacht wird und die entsprechenden Rahmenbedingungen für sinnvolle Tätigkeiten schafft.

Drei positive Prinzipien: Sinn, Zuversicht und Einfluss

Als notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Energie im psychologischen Kontext wird die Tatsache gesehen, dass die eigene Tätigkeit als sinnvoll betrachtet wird. Organisationen als lebende Systeme habe aber auch die Fähigkeit, selbst Energie zu produzieren. Dies geschieht vornehmlich dann, wenn wir die Aufmerksamkeit auf jene Erfahrungen und Situationen lenken, bei der wir Energie hatten und positive Erfahrungen machen konnten. Ebenfalls entsteht produktive Energie dann, wenn Menschen Möglichkeiten sehen, etwas bewirken und gestalten zu können. Im Kontext mit unserem Mietauto an der süditalienischen Tankstelle ist der Sinn der Tätigkeit offensichtlich, da es darum geht, erfolgreich zu tanken. Die Zuversicht und der wirksame Einfluss werden durch Marilenas Mann symbolisiert, welcher bereits die Erfahrung gemacht hat, dass sich mit dem entsprechenden Werkzeug vom Frühstückstisch dieses Problem souverän beheben lässt und er sich dadurch wirksam einbringen kann.

Und wenn nun Sie, liebe Leserin und lieber Leser neugierig geworden sind auf die Prinzipien der positiven Führung, dann sei Ihnen ganz herzlich das Buch «Positive Leadership» von Ruth Seliger empfohlen, welches neben den theoretischen Grundlagen auch noch viele praktische Instrumente umfasst. Weil ein positiver Fokus eben nicht nur an der süditalienischen Tankstelle hilfreich ist, sondern auch auf das übrige (Arbeits-) Leben ungemein gute Auswirkungen hat.

Nina Oehler
Organisationsberaterin

Quelle: Ruth Seliger. Positive Leadership. Die Revolution in der Führung, 2014, Schäffer Poeschel Verlag.

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